Cornel, ein rumänischer Student der Altphilologie befasst sich, wenn auch wenig zielstrebig, mit dem lateinischen Dichter Publius Ovidius Naso. Seine römische Freundin Laura nähert sich umso zielstrebiger dem Ende ihres Medizinstudiums.

Das ohnehin prekäre Verhältnis der beiden gerät aus den Fugen durch einen Erlass des stadtrömischen Parlaments, der Cornel in magischen Bann zieht. Im Namen des Senats und des römischen Volkes wird Ovid, vor mehr als 2000 Jahren von Kaiser Augustus aus Rom verbannt, offiziell rehabilitiert. Cornel drängt es nach Constanţa, dem ehemaligen Tomis, wo Ovid seine Jahre des Exils verbrachte, vergeblich auf eine Rückkehr nach Rom hoffend.

Bald schon vermischen sich Cornels Geschicke mit denen Ovids. Er wird Zeuge und zugleich Mitspieler in der Konfrontation zwischen Ovid und Augustus, der von Caesar begleitet wird. Wer gestaltet, wer wird umgeformt? Keiner kann sich vor den unheimlichen Metamorphosen sicher fühlen, auch Xenia nicht, die mit Ovid das Exil teilt. Auch sie sucht Antwort auf die Frage: Wer ist Pygmalion?

susanne cho


Pygmalions Erbe


Mythomorphosen


 

 

roman

   

Reihe: skepsis & leidenschaft / Band 13
mit Glossar und Zeitafeln

© Skepsis Verlag, Zürich 2020
318 Seiten. Softcover, Format 12 x 19 cm
Europa: 15 EUR / Schweiz: 18 CHF
ISBN 978-3-9524188-8-8

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Leseprobe Kapitel 1

Trank des Vergessens

 
Constanţa, Dezember 1967


Opium hatte ihr Herr den Trank des Vergessens genannt, Säftchen. Als er zum ersten Mal danach gefragt hatte, brauchte ­Xenia nur zum Marktplatz zu gehen, zahlreiche Händler boten es an, ein Luxusprodukt, aber leicht zu beschaffen für jeden, der die Mittel dazu hatte. Verkauft wurde es meist in hübschen kleinen Krügen, die der Form einer Mohnkapsel nachgebildet waren. Doch im Lauf der Jahrhunderte wurde die Beschaffung des Mohnsaftes immer schwieriger. Eines Tages verschwand der freundliche Pontier, der stets den nötigen Jahresbedarf für Xenia reserviert hatte. Der Handel mit Mohnsaft verstoße gegen das Gesetz, hatte ein Zyprer am Hafen ihr zugeraunt und dies als Erklärung verwendet, ihr die Ware zum doppelten Preis zu verkaufen. Im Folgejahr, sie hatte sich bereits auf eine erneute Preiserhöhung eingestellt, erschien auch der Zyprer nicht mehr im Hafen des Städtchens. Es werde ihn erwischt haben, meinte ein Händler, der wohl von der kleinasiatischen Küste stammte, so genau wollte er sich nicht äußern, aber Aussehen und Sprachfärbung ließen darauf schließen. Einer von Smyrna, sie wäre jede Wette eingegangen, doch ihr Herr, mit dem sie hatte wetten wollen, hatte nur mit ausdruckslosen Augen ins Leere gestarrt.
Xenia wirft einen Blick auf den Mann im Nebenzimmer, reglos verharrt er auf seiner Liege. Schläft er? Dämmert er? Träumt er? In seinen Träumen, hat er ihr eingestanden, sei er oft in Rom, durchstreife die Foren, schaue dem Treiben der Theater zu, suche sein Haus auf, die Seinen … Wo er diesmal sein mag? Mit wem er sich wohl trifft?
Ein verschlagener Typ, dieser Händler von Smyrna, er hatte ihr mit Verweis auf das gesteigerte Risiko das Dreifache abgepresst. Die Ware erwies sich im Nachhinein als minderwertig, verunreinigt, versetzt mit schädlichen Stoffen, die den Herrn zugrunde richteten. Daraufhin hatte Xenia einen Entschluss gefasst. Hat man nicht seit Menschengedenken ganz selbstverständlich Mohnsaft gewonnen, ihn als wirksames schmerzstillendes Medikament eingesetzt, als Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten und Sorgen, als Wundertropfen, mit denen man schreiende Säuglinge beruhigte, damit sie endlich in einen erquickenden Schlaf fielen. Überall war der Trank zu haben, wenn auch damals schon ein stolzer Preis dafür zu bezahlen war. Allein in Rom gab es Hunderte von Werkstätten, die Mohnsaftkugeln feilboten oder nach verschiedenen Rezepturen Mischsäfte mit Opium herstellten. Die Gewürzhändler, die Salbenhändler, die Spezereihändler – wobei man speziell bei den Spezereihändlern aufpassen musste, die, um mehr Gewinn zu machen, nicht selten aus Mohnblättern gewonnenen Saft als echtes Opium ausgaben –, viele verdienten ihr Geld damit. Und nun plötzlich dieses Theater!
Nach dem Vorfall begann sie damit, sich selbst um die Herstellung des Säftchens zu kümmern. Wenn Schlafmohn in kimmerischen Gefilden gedeiht, an der Nordküste des Schwarzen Meeres, dann erst recht auch an der milderen Ostküste des Pontus; die Pflanze ist klimatisch anspruchslos. Ein beträchtlicher Einsatz ist für Anbau und Herstellung des Tranks zu leisten, wehe dem, der den richtigen Zeitpunkt der Ernte verpasst. Alle Arbeit umsonst; das ist ihr nur einmal passiert, inzwischen ist sie erfahren und scheut auch den Aufwand nicht mehr. Freilich hat sie sonst kaum etwas anderes zu tun, der Herr verbringt so viel Zeit in seiner eigenen Welt. Sie kennt die Gegend, ist sie doch gewissermaßen die älteste Bewohnerin dieser Küstenstadt am Schwarzen Meer. Nur der Herr, dem sie damals gefolgt ist, als es ihn von Rom hierher verschlagen hat, entstammt derselben altehrwürdigen Generation wie sie. In der Stadt herrscht ein ewiges Kommen und Gehen, Kinder werden geboren, Alte sterben, selbst die Stadt Tomis ist im Laufe der Jahrhunderte mehrfach zu Ruinen zerfallen und ebenso oft neu erstanden – nun unter dem Namen Constanţa.
Xenia erhebt sich und prüft, ob Türe und Fenster gut verschlossen sind. Der Wind pfeift durch alle Ritzen, die Behausung ist baufällig. Mehr als einmal hat sie den Herrn gefragt, ob sie sich nach etwas Soliderem umsehen solle, doch er wollte nichts davon wissen. Es sind alte Ruinen, so sein Einwand, vertraute Gefährten, sie haben mit uns gelebt, atmen unser Schicksal. Xenia ist es recht, auch sie fühlt sich in dieser Unterwelt zu Hause, wenngleich der Zustand der Wohnung ihr immer wieder Anlass zu Klagen bietet. Heute werden die Windböen erneut einen Angriff auf ihr Refugium starten. Ein Ansturm des Lärms gegen die Ruhe, die sonst hier drinnen herrscht. Kalt ist es nicht, nein, die Temperaturen sind für Dezember noch immer recht milde, doch dieses Tosen attackiert mit seiner Aufdringlichkeit alle Gassen der Stadt, dringt bis in die Tiefen der steinernen Kammern, die Xenia und ihr schlaftrunkener Herr bewohnen. Die sonst allgegenwärtigen Geräusche der Stadt verschwinden hinter dem Brausen des Windes, nur der Lärm des nahen Hafens, der Lebensader der Küstenstadt, behauptet sich noch eine Zeit lang. Dann kommt auch der Hafen zum Erliegen, besiegt vom Heulen des Sturms. Keine Lebensgeräusche mehr, nur das Toben der Winde. Eine tote Stadt, eine Stadt der Toten.
Da! Ein Klopfen, ein Rütteln an der zerschlissenen Tür vielmehr. Erstaunlich, dass sich vereinzelte Windböen ungebremst ihren Weg bahnen bis in die Schichten unter den Galerien des Handelshauses, zu den alten Subkonstruktionen des einst mächtigen Komplexes, die Xenia und ihrem Herrn als Zufluchtsort dienen. Einst gab es hier Lagerräume und Ladenlokale, die Lage am Hafen war dafür ideal. Ursprünglich wohnten sie nicht am Hafen, die große Anlage, die sich über mehrere Terrassen erstreckt, wurde erst später errichtet. Doch alles verwandelt sich, auch das Gesicht der Stadt, Häuser zerfallen, Steinquader werden weggetragen, neu verbaut. Nur in tieferen Schichten befinden sich Zeugen der ersten Jahre der Verbannung.
Der Mann auf der Liege bewegt sich träge, selbst er scheint sich von den tosenden Winden gestört zu fühlen, er, der gewöhnlich in einer Welt der Gleichgültigkeit schwebt. Er nennt es Gleichmut, Geschenk des Saftes vom Kraut des Vergessens. Bald schon wird er wieder danach verlangen, ohne sich von seiner Kline zu erheben. Xenias Vorräte sind gut gefüllt. Wehe, wenn sie das Wundermittel ausgehen lässt, bevor die neue Ernte da ist. Der Sommer war gut, der Ertrag üppig. Von niemandem belästigt hat sie rechtzeitig die Mohnkapseln zur Abendstunde eingeschnitten, in den Morgenstunden des folgenden Tages die zähflüssigen Tränen von den Kapseln geschabt. Inzwischen ist sie erfahren, nicht nur im Anbau, sondern auch in der Kunst das Säftchen herzustellen. In früheren Zeiten hätte sie damit ein Geschäft eröffnen können, wäre als Salbenhändlerin …
Abermals dieses Klopfen an der Tür, energischer gar als zuvor. Wäre es möglich, dass jemand sie aufsuchen will? Höchst unwahrscheinlich. In diese Behausung gelangt kein Besucher, seit Ewigkeiten nicht mehr, schon gar nicht bei solchen Sturmwinden. Dennoch geht sie zur Tür, vielleicht ist es ja ein Balken, der sich gelöst hat und gegen das Holz schlägt. Zu sehen ist nichts, doch das ist bei dem spärlichen Licht nicht verwunderlich. Nach kurzem Zögern legt Xenia beide Hände an die Tür und öffnet sie einen Spalt breit. Erschreckt und ­geblendet vom unerwarteten Licht schlägt sie die Tür wieder zu, um sie sogleich erneut aufzureißen.
Eine Frau steht vor der Tür, eine Frau in einem schillernd leuchtenden Kleid und missmutiger Miene. Xenia grüßt die Unbekannte, murmelt entschuldigende Worte: schlechte Ohren, langsame Beine, Gebrechen des Alters … Licht dringt von der Außenwelt ins Innere der Wohnung, der Glanz des irisierenden Gewandes, vermeint Xenia wahrzunehmen, erhellt die Behausung. Der ungebetene Gast wirft neugierige Blicke über Xenias Schultern hinweg, doch die Dienerin, sich lang und breit machend, versperrt ihr die Sicht. Sie weigert sich, der Fremden Einlass zu gewähren, wohl wissend, wie grob sie damit gegen das Gebot der Gastfreundschaft verstößt. Wenn das nur kein Nachspiel zur Folge hat, Xenia kennt genügend Fälle, die grausam endeten; der Herr selbst hat ihr Geschichten darüber erzählt, damals, als er noch klar war.
Die Besucherin stellt sich als Iris vor, fragt, ob Publius ­Ovidius Naso sich hier aufhalte, der Dichter aus Rom, sie habe Nachricht für ihn, ein Schreiben aus Sulmona.
Hier lebe nur sie – sie und ihr kranker Herr, präzisiert ­Xenia nach kurzem Zögern. Ihr Herr leide an einer schlimmen Krankheit, gegen die auch die besten Ärzte machtlos seien. Iris zupft sogleich ein Spitzentuch aus ihrem Gewand und hält es sich gegen Mund und Nase. Ja, sie wisse nicht, wie ansteckend die Krankheit sei, es schwelten Dämpfe in der Luft, aber jemand müsse sich ja um den Herrn kümmern. Der da ein Poet! Da müsse wohl ein anderer gemeint sein. Ihr Herr liege stundenlang dämmernd in einer Welt zwischen Leben und Tod. Selbst wenn er aus der Apathie erwache, sei er kaum imstande zusammenhängend zu reden, ein Gespräch mit ihm sei ganz sinnlos und die Gefahr der Ansteckung groß.
Endlich gibt sich Iris geschlagen und lässt sich abweisen. Misstrauische Blicke verfolgen die ungebetene Besucherin auf ihrem Rückzug. Xenia schlägt die Türe zu, setzt sich erschöpft in einen Sessel.
»Wenn das nur keinen Ärger gibt«, murmelt sie und wirft einen Blick auf die Gestalt, die mit apathischem Blick in die Weite starrt. Wach? Schlafend? Tot? Es ist einerlei. Gleichgültig. Reglos. Ein Dämmerzustand außerhalb der Zeiten.
Sie hätte sich geschämt, einen Gast in diese stickige Höhle einzulassen. Seit Tagen nicht gelüftet, der schwere Geruch des Mohnsaftes in der Luft hängend, ihr Herr dumpf und apathisch. Zudem hatte sie guten Grund Iris abzuweisen, der Herr hat ein absolutes Besuchsverbot ausgesprochen. Dieser sture Bock, bitter und selbstgefällig.
Mit einem Ruck schiebt sie den Sessel zur Seite, öffnet die Läden, und als sie sich vergewissert hat, dass der Sturm im Abflauen begriffen ist, wagt sie es, das Fenster kurz zu öffnen. Endlich Licht und frische Luft, das war ja nicht mehr auszuhalten, und jetzt hat sie es gewagt, den Wünschen des Herrn zuwiderzuhandeln. Nun könnte sie sich an die Reinigung der Wohnung machen. Ihm mag es recht sein, so zu hausen, ihr aber nicht. Sie will sich nicht noch einmal so schämen müssen.
Der Schläfer regt sich.
»Morpheus, bist du das?«
»Ich bin deine Verwalterin.«
»Corinna?«
»Du träumst wohl! Corinna! Gib dich damit zufrieden, dass jemand dir das Haus besorgt. Eine Corinna würde dir schlecht bekommen. Hast du nicht selbst darüber geklagt, wie sie dich leiden lässt, wenn sie den Hüter des Tores anweist, dich nicht einzulassen? Wenn du die Nacht auf der harten Schwelle verbringst?«
»Aber die Wonne des Begehrens …«
»Träumer!«
»So lass mich träumen.«
Xenia stellt sich neben die Liege, bückt sich zu ihrem Herrn.
»Es ist aber etwas geschehen.«
»Es geschieht schon lange nichts mehr. Und hier in Tomis ist noch nie etwas geschehen.«
»Besuch war da. Eine Dame, sie wollte dich sprechen.«
»Corinna.«
Xenia seufzt und greift nach dem Besen.
Iris kommt wieder. Beharrlich weist Xenia sie fort.
Der Ruhende hebt die schweren Augenlider. Wer das gewesen sei, will er wissen in einem seltenen Moment des Wachzustands.
»Eine Frau.«
»Meine Gattin? Aus Rom?«
»Was weiß ich. Eine eigenartige Person, irgendwie alterslos. Sie nannte sich Iris.«
»Iris? Die Iris?«
Die Haushälterin zuckt mit den Schultern.
»Was wollte sie?«
»Sie wollte dir eine Botschaft überbringen.«
»Aus Rom?«
»Nein. Nicht aus Rom. Reg dich nicht auf. Eine Botschaft aus einer Provinzstadt. Sulmona.«
»Meine Heimat ist Sulmo, überreich an kalten Wassern …«, murmelt der Mann und wendet sich ab.
Beim nächsten Versuch, unmittelbar vor Jahresende, lässt Iris sich nicht mehr abwimmeln. Sie dringt in die Behausung ein und stellt sich vor das Bett. In ihrer Hand ein Brief, den sie vor den Augen des schlaftrunkenen Mannes hin und her schwenkt.
»Setz dich zumindest auf, wenn Iris mit dir spricht.«
»Iris?«
»Ja, Iris. Tu nicht so, als ob du mich nicht kenntest. Hast nicht du mich in einer deiner Verwandlungsgeschichten als Botin in kimmerische Gefilde gesandt, in die Höhle des ­Somnus, damals, als du dich noch als Poet betätigt hast. Kaum zu glauben, dass du einst ein helles Gestirn warst am Literatenhimmel Roms. Übrig geblieben ist ein heruntergekommenes Wrack, passend zu deiner verfallenen Behausung hier am Pontus, nicht weit von den Kimmerern und den Skythen. Du reihst dich wohl ein in dein Werk und wirst selber Objekt einer Metamorphose: Ein strahlender Stern verglüht und erstarrt zu einem schmutzigen Gesteinsbrocken.«
Iris wirft einen missbillig prüfenden Blick auf Xenia. Dem Aussehen nach eine Dienerin, dem dreisten Verhalten zu entnehmen jedoch eher die Gefährtin des Mannes. Die Lider des Dichters haben sich bereits wieder gesenkt. Sinnlos, sich noch länger an diesem unwirtlichen Ort aufzuhalten. Iris schreitet zum Ausgang, Xenia steht schon bereit, der Dame die Türe zu öffnen. Ein knapper Gruß. Die Tür fällt krachend ins Schloss, Iris sieht sich genötigt, den Saum ihres Regenbogengewands aus dem Türspalt zu ziehen. In dieses unfreundliche Haus wird sie ihren Fuß nicht mehr setzen, schwört sich die Botin, egal wer es ihr auch befehlen mag. Wenn Sterbliche sich an keine Regeln mehr halten, warum müssten es dann Götter?
Der Brief bleibt ungelesen. Ovid zumindest rührt ihn nicht an.
Es wirkt wie ein amtliches Schreiben, denkt Xenia, als sie den Briefumschlag begutachtet. Er kommt aus Sulmona und trägt einen Stempel vom 10. Dezember 1967. Eine goldene Krone über rotem Feld, wohl das Emblem der Stadt, ziert den Umschlag, darin die Buchstaben SMPE. Wie sagte Naso, als sie auf Sulmona zu sprechen kam? Sulmo mihi patria est … Wer weiß, ob es nicht doch etwas Wichtiges betrifft, etwas Dringliches, wozu sonst hätte die Botin mehrmals ein Haus aufgesucht, in dem man sie grob behandelt. Vorsichtig setzt Xenia das Messer an und löst den Verschluss des nur schwach verklebten Umschlags. Sie würde jede Wette eingehen, dass schon jemand zuvor ihn geöffnet hat. Iris, diese neugierige Person. Genug Zeit dafür hatte sie ja.
Der Inhalt des Briefes lässt Xenia ratlos zurück. Ein sonderbares Latein. Gewisse Wörter sind deutlich zu erkennen, andere, verstümmelt, misshandelt und mit Endungen auf -o versehen, nur zu erahnen. Schon der Titel ist eine Herausforderung. Klar wird, dass in Sulmona, Nasos Heimatstadt, ein Prozess stattgefunden hat, den man schon vor Jahren hätte betreiben sollen. Mit dieser Feststellung beginnt der Bericht. Dann steht da in fetten Buchstaben: assolto in Sulmona il poeta Ovidio, was ja wohl nichts anderes bedeuten kann als Freispruch Nasos durch einen Gerichtsbeschluss. Was es mit diesem Bock, dem capro espiatorio auf sich hat, ist schon schwieriger zu verstehen. Ein Opfertier, ein Ziegenbock der Sühne. Um eine Gottheit günstig zu stimmen? Welchen Gott? ­Augustus? Egal! Auf jeden Fall steht ganz deutlich di colpe non sue, was mit Sicherheit heißt, dass die Schuld nicht bei Naso liegt, dass er zu Unrecht bestraft wurde, vielleicht sogar stellvertretend für andere, die man geschont hat. Assolto – ­absolutus – freigesprochen. Nach fast zwei Jahrtausenden. Etwas gar spät, befindet Xenia und wiegt zweifelnd den Kopf. Wen interessiert es schon. Naso zweifellos nicht mehr, der starrt ins Leere und nimmt den Brief, den sie ihm auf sein Polster legt, nicht einmal auf.
In den ersten Jahren des Exils wäre das die Sensation gewesen, die erlösende Nachricht, die er stets ersehnte. Wie oft hatte er Briefe nach Rom gesandt, sein bitteres Schicksal heraufbeschworen, Tomis beschrieben als eine unablässig von wilden Reiterhorden bedrohte Siedlung, als unkultiviertes ­Barbarenkaff. Wenn Naso ihr manchmal Passagen aus seinen Liedern der Trauer vorlas, einer todtraurigen, aber in elegante Verse gesetzten Dichtung, wie auch Xenia unschwer zu beurteilen vermochte, fragte sie sich, was wohl die griechischen Bewohner der Stadt darüber denken mochten, immerhin gehörte Tomis, eine milesische Koloniestadt, damals zur ­pontischen Pentapolis, hatte stattliche Gebäude aufzuweisen, Tempel, Thermen, ein Gymnasion, das als Kulturzentrum für eine griechische Polis unabdingbar ist, Märkte und einen bedeutenden Hafen. Auch das Klima ist bei weitem nicht so rau, wie Naso es dargestellt hat. Gut, der Winter bringt zuweilen Kälte, Schnee und Eis mit sich, wie ein Bewohner Roms sich das kaum vorstellen kann. Von den Bäumen hängen fragile Eisskulpturen wie kunstvolle Dekorationen für ein Fest, in besonders strengen Wintern kommt es vor, dass die Meeres­decke zu Eis erstarrt, die Steinquader am Ufer sich zu grotesken Eisgestalten verwandeln, Brüstungen und Sitzbänke skurrile Formen annehmen, die nicht einmal Nasos Phantasie für seine Metamorphosen hätte ersinnen können. Aber die Winter dauern nicht zwei Jahre, es gibt einen Frühling, die Äcker lieferten schon damals so viel Korn, dass großzügig exportiert wurde, und es gedeihen sehr wohl Äpfel und Wein. Naso hatte aus ­Tomis und der Schwarzmeerküste eine konstant düstere Gegend am Ende der Welt geschaffen, mit der man ungehorsamen Kindern hätte drohen können, ein Land aus dem Reich der Fabeln. Eine neue Metamorphose. Ein Mythos. Ob man ihm in Rom geglaubt hatte? Ob er womöglich selbst daran glaubte? Natürlich fehlte ihm Rom, die Prachtbauten, die kultivierten Lesezirkel, in denen er als gefragter Dichter gefeiert wurde, seine Freunde, seine Familie. All das hatte er verlassen müssen, und Rom kam fortan ohne ihn aus. Ein bitteres Schicksal – insofern war sein Fall tief. Dies waren die wirklichen Abgründe, nicht das Klima, nicht ein Mangel an ­Nahrung, nicht die wilden Stämme, nicht Armut und nicht das Fehlen von Menschen, mit denen er sich hätte unterhalten können. Auch in Tomis gab es eine Elite und die sprach griechisch. Und ganz so einsam und asketisch hatte er nach einer ersten Schockstarre seine Jahre an der Schwarzmeerküste nicht verbracht.
Xenia lächelt in Erinnerung an jene Zeit, als sie neu in Ovids Hauswesen eingetreten war. Nicht mehr so jung wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte, doch noch immer hübsch und dazu einigermaßen gebildet, immerhin hatte sie zuvor lange im Hause des Messalla gedient, hatte zuweilen, wenn die Dichter zusammenkamen, den Lesungen gelauscht, Naso bewundert, aber auch die junge Dichterin Sulpicia. Damals war auch sie noch jung ... Jung und naiv. Heimlich hatte sie versucht eigene Verse zu schmieden, ein Glück, dass niemand je davon erfahren hat ... Trotz seiner guten Verbindungen hatte Messalla seinen Schützling Naso nicht retten können. Aus freundschaftlichem Mitgefühl und in weiser Voraussicht hatte er für den in Ungnade gefallenen Dichter eine seiner griechischen Sklavinnen ausgewählt und ins Exil mitgegeben: Xenia. Es war eine gute Wahl, Xenias Neigung für Poesie war Messalla nicht entgangen, ihre Zuneigung für den Poeten Naso erst recht nicht.
Das erste Jahr war hart, auch für sie. Der Dichter lebte zurückgezogen, sprach wenig und meistens nur mürrische Worte. Als eine hartnäckige Krankheit ihn bedrohlich schwächte, pflegte Xenia ihn mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Damals, bei seiner Genesung, bat er sie regelmäßig ihm vorzulesen. Später, als er wieder zu schreiben begonnen hatte, diktierte er ihr seine Verse. Sie hatten sich einander angenähert. In jenen ersten Jahren der Verbannung rechnete Naso noch damit, oder zumindest hoffte er darauf, nach Rom zurückberufen zu werden. Auch als die Hoffnung abgeflaut war, fuhr er fort, sie zu kultivieren und in Verse zu fassen. Erneut flackerte die Hoffnung auf, als Augustus nach einer schier endlosen Regierungszeit in hohem Alter doch noch verstarb und Tiberius an die Macht kam. Doch auch Tiberius hatte ihn nicht zurückgeholt. Oft hatte sie sich gefragt, wie sich eine Rückkehr nach Rom wohl auf ihn ausgewirkt hätte. Nach einiger Zeit hatte er sich in dem von ihm so geschmähten Tomis recht gut eingelebt. Und Rom hatte sich verändert.
Seither sind Jahrhunderte vergangen. Der Mann, den sie Tag für Tag in seinem elendiglichen Zustand vor sich sieht, hat mit Naso kaum mehr etwas gemein. Der da ein Poet, hatte sie Iris auf die Frage nach dem römischen Dichter Ovidius Naso geantwortet, da müsse ein anderer gemeint sein. Sie hatte die Wahrheit gesprochen. Ovid ist gestorben, Naso gibt es nicht mehr. Es gibt seine Dichtung, die ist unsterblich. Ovidius Naso aber hat sich verwandelt, transformiert in eine kraftlose, blasse Gestalt. Er hat sich vom Dichter zum Protagonisten seiner eigenen Metamorphose gewandelt.

...
[Auszug aus «susanne cho: Pygmalions Erbe», Kapitel 1]

Susanne Cho, 1952 in Zürich geboren, besuchte das altsprachliche Gymnasium, studierte Kunstgeschichte und Psychologie und promovierte an der Universität Zürich. Fachausbildung in Psychotherapie.